„Ist das jetzt nicht stereotyp?“ – Ein Gespräch über Gleichstellung und Male Allyship

Wir im Software Campus-Team sind uns des Ungleichgewichts der Geschlechterverteilung1 in der Informatik und in Führungspositionen im Allgemeinen bewusst und möchten im Rahmen des Programms eine offene und inklusive Atmosphäre für alle schaffen und unseren Teilnehmenden Raum für Austausch bieten. Denn als potenzielle IT-Führungskräfte von morgen möchten wir unsere Teilnehmenden für diesen Themenkomplex nachhaltig sensibilisieren. Dafür ist das Angebot eines neuen Trainings ab 2021 geplant, welches Bewusstsein für bestehende Ungleichheiten schaffen und den Teilnehmenden das Zusammenstellen von diversen Teams als eine Kernkompetenz von Führungskräften vermitteln soll.

Außerdem möchten wir über Erfahrungen, Strukturen und Mechanismen sprechen. Wir starten mit einem Gespräch über Male Allyship – also darüber, wie Männer aktiv als Verbündete der Frauen auf geschlechtsbezogene Ungerechtigkeiten aufmerksam machen und dem entgegenwirken können im Sinne des gemeinsamen Ziels: Gleichstellung.

Wir sprechen darüber mit Julia (ihr Profil hier) und Florian (Infos zu seinem Forschungsprojekt hier), einer aktuellen Teilnehmerin und einem Absolventen des Programms. Für beide sind die Themen Gleichstellung, Geschlechtergerechtigkeit und Diversität seit mehreren Jahren sehr präsent, wobei sie an jeweils anderen Stellen dafür aktiv sind. Julia promoviert an der TU München, ist Mitglied der „Jungen Akademie” der Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz und hat ein Stipendium der Studienstiftung des deutschen Volkes, wo sie auch regelmäßig in Auswahlkommissionen tätig ist. Florian war Geschäftsführer des House of IT und ist jetzt Studiengangleiter und Dozent an der Provadis Hochschule und lehrt zudem in der Oberstufe Informatik.

Software Campus: Julia, was würdest du dir, als Frau in der Informatik, an struktureller Veränderung wünschen?

Julia: Zum einen ein Bewusstsein dafür, dass Frauen 50% der Bevölkerung ausmachen, wir aber nur 10-20% Frauen in der Informatik oder in Führungspositionen haben. Und das dann so oft wie möglich zum Thema machen: Woran liegt es, dass bei Podiumsdiskussionen, bei Workshops, in der Studierendenschaft etc. nicht 50% Frauen sind? Und das Zweite, was ich mir wünsche ist, dass immer, wenn der Stereotyp geäußert wird, Frauen seien fleißiger, ordentlicher, strukturierter – dass dann ein Mann fragt: ist das jetzt nicht stereotyp? Dann bleibt es nicht immer an Frauen hängen, darauf hinzuweisen. Manchmal sind wir auch selbst in diesen Rollen so fest drin, dass wir sie gar nicht hinterfragen.

Software Campus: Florian, wo würdest du ansetzen?

Florian: Hier können zwei Ansatzpunkte identifiziert werden: Da wo wir jetzt gerade sind und wo die Ursachen dafür liegen. Ich bin ein Fan davon Ursachen zu bekämpfen, wenngleich das bedeutet, dass wir die Effekte wahrscheinlich erst in 20 Jahren sehen werden. Leider! Das befreit uns aber nicht von der Pflicht, auch im Hier und Jetzt der Ungleichheit zu begegnen. Trotz allem glaube ich, dass Ursachenbekämpfung nachhaltiger ist, als auf absehbare Zeit immer nur am Problem rumzudoktern. Meine Erfahrung in der Schule ist, dass spätestens in der Oberstufe diese Stereotype schon geprägt sind. Was können denn Eltern machen, um das Entstehen des Stereotyps zumindest nicht zu befördern?

Julia: Kritisch Kinderbücher auswählen. Es gibt z.B. den Online-Shop Tebalou, die haben Kinderspielzeug, das versucht unsere Gesellschaft möglichst realistisch abzubilden. Mit BIPoC2, mit Menschen mit Behinderung und so weiter. Wenn man sich ansonsten mal Kinderbücher anschaut, sind das oft stereotype Charaktere. Alternativen sind z.B.  „Goodnight Stories for Rebel Girls“ (Elena Favilli und Francesca Cavallo). Oder „Stories for Boys Who Dare to be Different – Vom Mut, anders zu sein“ (Ben Brooks)3. Auch bei Filmen und Serien sollte man die Auswahl kritisch treffen und mit den Kindern darüber sprechen: Nimmst du das auch so wahr? Meinst du das hätte jetzt auch ein Mädchen hinbekommen? Findest du die sehen alle so aus wie du oder anders? Das Bewusstsein dafür, dass es Ungerechtigkeiten gibt, muss bei den Eltern anfangen.

Diese beiden Ansatzpunkte – die Ursache wie auch das aktuelle Problem zu beheben – müssen Hand in Hand gehen, damit Eltern und Kinder gleichermaßen sensibilisiert werden. Dann müssen Kindergarten und Schule das weiterführen: Schule muss anti-rassistisch sein, Schule muss anti-sexistisch und inklusiv sein. So kann vermittelt werden, dass es ganz unabhängig von äußeren Merkmalen ist, wie eine Person ist und was sie erreichen kann. Erst dann kommen wir an den Punkt, an dem Stereotype bei der späteren Berufswahl keine Rolle spielen.

Software Campus: Stichwort Stereotype – Florian, wie können wir deiner Meinung nach damit umgehen?

Florian: Meine ehemalige Kollegin Kathrin Egger von Digital Media Women hat mal sinngemäß gesagt: „Leute, durchbrecht doch einfach mal solche Verhaltensmuster und guckt, wo die herkommen. Wenn auf einer Veranstaltung nur Männer sprechen, dann sagt doch mal: Hey, ihr habt hier viele Männer, wie wäre es denn, wenn ihr mal die Frau, die oder die einladet?“. Und meine persönliche Erfahrung, die ich im House of IT gemacht habe: Diese Hürde liegt unglaublich niedrig. Wenn man einfach damit anfängt, dann wird deutlich, dass anstatt eines Sprechers eine Sprecherin genauso gut oder vielleicht sogar besser ist oder einen neuen Aspekt in die Diskussion einbringt, einfach weil der Horizont breiter gemacht wird. So haben wir es gemeinsam in meiner Zeit im House of IT geschafft, dass wir auf all unseren wichtigen Veranstaltungen eine Sprecherinnen-Quote von deutlich über 50% hatten. Ich glaube ein nicht-konfrontatives Vormachen ist viel erfolgreicher als der Vorwurf: Du bist Sexist und du verhinderst hier alles, du versuchst deine eigene Position zu schützen, weil du Angst davor hast, dass wir was Neues ausprobieren.

Julia: Meiner Meinung nach müssen wir aber trotzdem das gesamtgesellschaftliche Problem klar benennen. Dazu sind zwei Fragen entscheidend: Wie helfen wir den Menschen, die jetzt in diesem System sind? Wie schaffen wir es aber auch das System Schule/Kindergarten soweit zu verändern, dass es für alle Menschen gerecht ist? Ganz oft wird Gleichstellungsarbeit so dargestellt, als wolle man alle alten Gesellschaftsbilder einfach abschaffen. Aber es geht darum, jeder Person die Freiheit zu geben, sich selbst dafür zu entscheiden, was am besten passt. Und das ist ein Aufzeigen von Möglichkeiten für alle, auch die, die vom System profitieren. Mehr Möglichkeiten können für Männer bedeuten, dass sie weinen dürfen, genauso untereinander zärtlich sein können, wie das Frauen oft sind. Dass sie sich Hilfe suchen können, nicht immer die Starken, nicht die Familienernährer sein müssen. Das kann auch für Männer ein positives Bild sein und eine Befreiung.

Alternativen aufzeigen ist super, falsches Verhalten muss meiner Meinung nach gleichzeitig klar adressiert werden. Wichtig ist dabei: Es geht nicht um die Person. Wenn jemand sagt: „aber ich will ja gar nicht sexistisch sein“ oder „ich bin kein Sexist“ oder „ich bin gar nicht diskriminierend“, dann kannst du erwidern: „Es geht ja auch nicht darum, dass du das als Person bist, sondern dass du etwas gesagt hast, was diese Person verletzt hat. Dass das gar nicht deine Absicht war, wird auch nicht in Frage gestellt“. Ich glaube, wir empfinden das Aufzeigen von verletzendem Verhalten oft als ein Aufkündigen von Freundschaften, Kameradschaften oder Kollegensein und das ist es gar nicht. Es geht darum, aktiv an einer besseren Beziehung zu arbeiten. Intention alleine schützt nicht.

Software Campus: Sollte Male Allyship offener angesprochen und eingefordert werden oder reicht das Vormachen?

Julia: Ich glaube, dass es ganz auf die Beziehung ankommt, da gibt es glaube ich keine perfekte Handlungsempfehlung. Es ist eine Mischung.

Florian: Was unheimlich hilft bei Male Allyship, ist, wenn im Team eine Frau ist, die sich mit dem Thema Gleichstellung auskennt. In meiner Welt muss ein Male Ally nicht unbedingt einer sein, der jedes Buch zum Thema gelesen und die Welt bereist hat; ein Male Ally muss jemand sein, der Möglichkeiten dort eröffnet, wo die kompetente Person sie sonst nicht selbst oder nur sehr umständlich hätte. Und so habe ich das auch im House of IT gelebt.

Julia: Das ist ein wichtiger Punkt: dort Machträume aufmachen, wo Frauen es eben nicht selbst machen können. Es gibt noch viel zu viele Runden, wo keine Frau drinsitzt, keine Schwarze4 Person, keine Person mit Behinderung. Da muss bewusst gesagt werden: Wir entscheiden uns für Diversität.

Dazu möchte ich noch einen anderen Aspekt einbringen: Nicht jede Frau ist eine Expertin für Gleichstellung. Ganz oft wird dann irgendeine Frau angefragt, jetzt doch bitte zu Gleichstellung zu sprechen. Das ist super schwierig.

Florian: Das ist vor allem dumm. Das zeugt ja davon, dass man Null Verständnis für die Thematik hat.

Julia: Ja! In den letzten zwei Jahren habe ich mich sehr viel damit beschäftigt, aber auch davor wurde ich ständig irgendwo eingeladen, zu Frauen in der Informatik zu sprechen. Diese ganzen Einladungen haben dann irgendwann dazu geführt, dass ich mich damit beschäftigt habe, aber es gibt auch Frauen, die sich genau damit beschäftigen und dann sollte man auch diese Wissenschaftlerinnen dazu einladen. Dasselbe gilt auch für Schwarze, für Menschen mit Behinderungen. Nicht alle sind Aktivist*innen.

Florian: Abschließende Worte: Hast du einen top Tipp, der für dich am besten funktioniert hat?

Julia: Was mir persönlich am meisten geholfen hat, ist wirklich der Punkt zu Intention vs. Wirkung. Intention ist nicht das Einzige. Es kommt vielmehr darauf an, wie die Worte und Taten beim Gegenüber wirken. Wenn man eine andere Person verletzt hat und das nicht wollte, ist es kein Problem, sich zu entschuldigen und zu versuchen, das in Zukunft besser zu machen und daraus zu lernen. Viele unserer Verhaltensweisen und Einstellungen sind durch unsere Erfahrungen geprägt. Und da die Gesellschaft, in der wir leben, noch diskriminierend ist, müssen wir das aktiv hinterfragen.

Was ist denn das, was für dich am besten funktioniert hat, wo du das Gefühl hattest, du hast am meisten Impact, abseits von Repräsentation? Was können Männer tun, um das insgesamt besser zu machen?

Florian: Das ist eine schwierig zu beantwortende Frage, weil alle Aktivitäten, die ich durchführe ja eigentlich erst nach der Ursache ansetzen. Selbst Oberstufenunterricht – da ist das Kind schon in den Brunnen gefallen. Ich mache immer allen deutlich, dass es keine Frage des Junge-Seins, Mädchen-Seins, Sonstwas-Seins ist, um in der Informatik erfolgreich zu sein. Aber das passiert zu einem Zeitpunkt, wo diese Personen dann erst einen Selbstreflektionsprozess durchlaufen müssen, um dieses Vorurteil, das sich vielleicht unbewusst gebildet hat, zu überwinden. Ich setze in meiner Tätigkeit als Lehrer definitiv zu spät im Leben meiner Schülerinnen und Schüler an, aber ich gebe mir große Mühe, niemanden geschlechtsspezifisch von der Informatik fernzuhalten, ganz im Gegenteil. Und ich habe den Eindruck, dass die von mir unterrichteten Mädchen nun eher über ein Informatikstudium nachdenken, als sie es vorher getan haben. Aber es steht mir nicht zu, für meine Schülerinnen zu sprechen.

Julia: Das ist auch ein ganz wichtiger Tipp: Nicht über Frauen sprechen, als wären sie nicht da – obwohl sie im Raum anwesend sind. Du hast ja schon gesagt, dass du dich in der Rolle des Male Ally siehst, um Frauen dort die Möglichkeiten aufzumachen, wo sie es selbst nicht können. Ich habe es so gedeutet, dass du sagst: wenn Frauen da sind, die für sich selbst sprechen, ist es nicht meine Aufgabe, über Frauen zu sprechen. Das ist ein ganz wichtiger Punkt, um als guter Male Ally dann auch von Frauen wahrgenommen zu werden.

Software Campus: Julia und Florian, vielen Dank für das Gespräch!

1 Liebe*r nicht-binäre*r Leser*in, wir sprechen an vielen Stellen nur von zwei Geschlechtern. Wir wissen, dass Geschlechter vielfältig sind, haben uns aber entschieden, uns hier auf das Verhältnis zwischen Menschen zu fokussieren, die sich als Frauen oder Männer identifizieren oder in bestimmten Situationen als solche gelesen werden.

2 Steht für Black, Indigineous, People of Color und ist eine oft gewählte Selbstbezeichnung.

3 Weiterer Buchvorschlag: „Für Jungs, die anders sein wollen: 50 außergewöhnliche Männer, die die Welt verändert haben“ (Caroline Stürmer)

4 Hier ist Schwarz als Selbstbezeichnung gemeint.

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